Gemeinschaft der Würde?!
Jürgen ist 58 und sieht so deutsch aus wie ein Deutscher nur aussehen kann. Er gibt sich auch gar keine Mühe uns in spanisch zu begrüßen sondern kommt freundlich und bestimmt an unseren Tisch im Restaurant des Hotels Villa Baviera mit einem „Herzlich Willkommen“. Dabei steht er ganz kurz stramm wie zum militärischen Gruß mit geschlossenen Hacken, den Händen hinter dem Rücken und leichter Verbeugung. Die Szene ist skurril – schließlich sind auch wir in dieser Umgebung eindeutig als Deutsche zu erkennen! Doch wie wir später merken war das weder gespielt noch eine Andeutung zum 3. Reich. Denn Jürgen ist hier geboren, aufgewachsen in Zucht und Ordnung und somit Zeitzeuge des Geschehens, ein ausgezeichneter Gesprächspartner mit Detailwissen wie wir schnell merken. Er lebt und arbeitet hier im gastronomischen Service, und auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad – genau wie Erika – eine Dame Mitte 70 an der Rezeption oder Renate (vielleicht Mitte/Ende 50) die hier scheinbar Manager Aufgaben übernimmt. Während wir nach dem Einchecken beim Bierchen sitzen entdecken wir immer mehr Leute (ab 50 aufwärts), welche ohne Zweifel deutscher Abstammung sind und können sogar Gesprächsfetzen dieser Personengruppen in unserer Muttersprache wahrnehmen.
Als der Asphalt an diesem Tag endete kommen wir an ein Pförtnerhaus, welches vom Baustil an jeder westdeutschen Kaserne stehen könnte. Schon die letzten 10 km war die Flora um die Straße so wie in Alpennähe in einem heißen Sommer. Das Vorgebirge der Anden erhebt sich und nach der Einfahrt auf das Gelände folgen wir einem Weg, der mit Stacheldraht an Betonsäulen gesäumt ist wie einst an der innerdeutschen Grenze oder um Konzentrationslager der Nazis – für uns einzig offensichtlich erkennbares Relikt einer düsteren Vergangenheit. Denn nach anderthalb Kilometern erreichen wir das Hotel Baviera und damit das touristische Zentrum der Anlage Villa Baviera….. ja verdammt wir sind in Deutschland und fühlen uns gerade wirklich wohl!
Ein Jeder der gute westdeutsche Hotelbauten aus den 70er/80ern kennt die bis heute nicht restauriert wurden weiß was das heißt. Rote flies Teppiche überspannen Treppen und Flure, die Wände sind halbhoch mit Holz getäfelt (Eiche rustikal) Messingtürbeschläge und Fenster mit Ado Gardinen sowie Borde zieren die Öffnungen nach draußen – ja es riecht sogar nach deutschem Desinfektion bzw. Reinigungsmittel. Das Restaurant „Zippel Haus“ könnte sowohl außen und innen jeder schwäbischen Gemeinde gut zu Gesicht stehen. Es gibt einen Dorfladen mit Produkten eigener Herstellung, einen Biergarten, Eisbein, Sauerkraut und Schweinebraten. Außen herum sind wirklich grüne Wiesen, Apfelbäume, Wandelgänge, Gärten und Alleen, ein Gondelteich, Wildgehege, Pool, Spielplätze mit Blockhütten. Kremserfahrten werden angeboten, der Ritt zu Pferd oder mit einem 70er Unimog über das Gelände, zudem schwebt über allem der Klang von Blasmusik und Heimatliebe.
Phuhaaahhh….soviel DEUTSCHLAND hatten wir nicht erwartet – die chilenischen Tagestouristen hingegen schon!
Es ist Samstag gegen 18.00 Uhr und alles ist proppevoll mit Einheimischen die hier gegen Eintritt am Pförtnerhaus ein Stück Alemannia erleben können ohne jemals den Kontinent wechseln zu müssen. Sie haben meist keine Ahnung dass Sie die heutige helle Sonnenseite von 1500 ha urbar gemachten Land genießen, welches seit 1990 von den Nachfolgefirmen der Colonia Dignidad verwaltet wird – Jürgens Schilderungen aus der Zeit davor werden die meisten von Ihnen nie erreichen, obwohl ein Museum in spanisch und deutsch Auskunft gibt.
Paul Schäfer verstand es, wie jeder geborene Anführer, die einfachen Leute von seinen Ideen, seiner Ideologie zu begeistern und zu überzeugen. Diese gründeten auf Gottesfurcht und einem einfachen Leben in christlicher Wertegemeinschaft, was in der BRD der 1950 Nachkriegsjahre viele Anhänger fand. Nach einer Karriere in der Wehrmacht und anschließend in der katholischen Kirche verschwand er nach Gründung eines Kinderheimes in Deutschland Richtung Chile um seiner Perversion neue Perspektiven zu geben. Er verstand es ganze christliche Familien – vorzugsweise Handwerksmeister – mit ins gelobte Land zu nehmen, um hier ein neues Leben frei von den satanischen Versuchungen der westlichen Welt führen zu können. Das Schäfer wegen Pädophilie bereits 1959 aus der Katholischen Kirche ausgeschlossen wurde und ihm in der BRD schon Strafverfolgung drohte, registrierte bei dem damaligen Informationsfluß/Informationsmöglichkeiten Niemand – weshalb ihn ein Flugzeug mit 150!!!! Anhängern – Männern, Frauen und Kindern nach Chile brachte.
Umgehend machten sie sich daran, das von Schäfer erworbene Land urbar zu machen – mit der Hand! Ganz im Gegenteil zum heiligen Buch trennte Schäfer dabei Jungen und Mädchen, Eltern und Kinder, Mann und Frau. Jeder für seine Aufgabe – Gott zu dienen, denn die Arbeit wird alle erlösen……frei nach dem Motto „Arbeit macht frei“. Das Beräumen der 1500 ha von Feldsteinen und Urwuchs erledigten die Jungen und Mädchen strikt getrennt Tag für Tag per Hand – Jürgen und Erika haben heute künstliche Hüften! Die Eltern, Meister und Fachleute errichteten die Infrastruktur und hatten keine Ahnung, dass es Schäfer lediglich auf die Jungen abgesehen hatte. Gerne gaben Sie ihre Kinder in die Obhut des guten Priesters der mit Ihnen Sport trieb und christliche Werte vermittelte. Es wurde Gesungen – fromme und alte Weisen, Theater gespielt – aber niemals etwas in dem sich Mann und Frau nahekamen!
Doch nach Außen wurde die heile Welt vermittelt! Dabei durften Eltern nicht mehr mit Ihren Kindern sprechen und wenn doch gab es Strafen, Familienfotos wurden nur für die Presse gemacht meist im gleichen Zimmer mit gleicher Deko! Niemand schien das aufzufallen und die Bewohner zäunten sich obendrein noch selbst ein und errichteten Ihr eigenes Konzentrationslager! Schaefer verstand es gegen jeden Zweifel eine gottesfürchtige Begründung zu finden. Geld stigmatisierte er als Teufelszeug und während ALLE in Dignidad ohne Entlohnung schufteten, häufte er selbst ordentlich Vermögen an indem auch ahnungslose deutsche Rentner, ganze Pensionen und Vermögen an „Gottes Werk“ abgaben – was für ein Zug!
Doch solch eine Entwicklung bleibt nirgendwo dauerhaft unbemerkt und ist auch alleine nicht zu bewerkstelligen. Es gab ein Netzwerk aus Mitwissern und Komplizen in Deutschland und Chile. Tonnenweise wurden Fahrzeuge, Maschinen und andere Waren in der BRD beschafft und als Entwicklungshilfe nach Chile gebracht – deklariert als Medizinisches Gut ohne Steuern und Gebühren. Umgekehrt wurde chilenisches Gold im selbst produzierten Honig nach D gebracht. Salvador Allende ist wohl hier mit seiner Justiz schon aufmerksam geworden, doch da kam der Putsch von Augusto Pinochet 1973 genau recht für Schäfers Pläne. Als konservativer Katholik lies sich der neue Staatslenker von dem in wenigen Jahren Erschaffenen der Colonia Dignidad sehr beeindrucken und auch blenden. Darüber hinaus erkannte er schnell, dass er mit Schäfer und seiner fast militärisch geführten Sekte einen Ort gefunden hatte wo kein politischer Gegner mehr Licht sehen würde. Dies führte zu der unheilvollen Allianz zweier Autokraten, wo der eine von Staatsseite auf dem Gelände foltern und töten lies und der Andere sexuell missbrauchte wie es wohl in schlimmster Vorstellung nicht fassbar ist. > Details von Jürgen möchten wir ersparen, aber vom Sex Sklaven bis zur Orgie im „Tempel“ sowie Züchtigungen und Elektroschocks war alles dabei.
Um von diesem Wahnsinn abzulenken errichtete Schäfer auf dem Gelände ein Krankenhaus, das für die gesamte Umgebung kostenfrei war und wirklich Leben und Gesundheit auch vieler Chilenos rettete > das betont Jürgen ausdrücklich. Es gibt eine Auflistung von tausenden chilenischen Kranken die behandelt und Kindern die hier geboren wurden – nur keine Deutschen!!!??? Die Sprösslinge der Auswanderer kamen Mitte der sechziger Jahre noch hier zur Welt – ohne Krankenhaus. Eine Heilung der Sektenmitglieder sollte nur durch Gotteshand erfolgen, dabei war einer der Köpfe Dignidads der deutsche Arzt Hartmut Hopp!!??
Allerdings wurden wohl auch regimetreue chilenische Ärzte stationiert die wiederum Ihren Dienst bei fragwürdigen Geheimdiensteinsätzen leisten mussten. Eine Landepiste wurde geschaffen und so erhielt auch die Außenwelt einen Zugang zum Gelände. Dieser wiederum war allerdings nur für Militärs und Waffenhändler, es wurde auf dem Gelände so einiges ausprobiert und verschoben. Die Colonia selbst verfügte über ein riesiges Arsenal an Pistolen und Gewehren und die wurden hier auch professionell hergestellt – Meister und Maschinen gab es genug. Und so einer wie Schaefer lebt natürlich irgendwann auch in Angst bzw. leidet unter Schizophrenie. Frei nach innerdeutschem Vorbild schaute er sich vom Sozialismus (den er hasste) ab wie mann sein Gelände sichert. Ausgehöhlte Bäume mit Kameras, Bewegungsmelder und Stolperdrähte, Panzerglas und eine ausgewählte Gruppe Jungs als bewaffnete Leibgarde…….nur Selbstschußanlagen waren dann wohl doch zu teuer.
Doch für Jürgen und die anderen gab es keine Zeitung, kein Radio, keine Schulbildung, keinen Berufsabschluss!!! Keine Beziehung zum anderen Geschlecht, dafür über 100 Hunde für die eine extra Küche eingerichtet wurde! Jürgen machte mit 38 Jahren seinen Realschulabschuss in Chile!!! Er hatte bis zum Alter von 30 Jahren noch nie etwas über Sexualität, Blutkreislauf oder Geographie gehört!!!…..das war 1994!!!! Dafür aber die Schreie von politischen Gefangenen aus einem bestimmten Gebäude der Anlage, dessen Keller extra beräumt wurde. Er selbst versuchte 5 mal zu fliehen – doch wohin ohne Kenntnisse der spanischen Sprache, ohne weltliches Allgemeinwissen in einer Welt die von Pinochets Geheimpolizei dominiert wurde!!!??? – 5 Mal wurde er aufgegriffen, ruhig gestellt und anschließend mit Elektroschocks behandelt, er war Tage ohne Bewusstsein, 2 mal versuchte er Suizid!!!!…….Jürgen ist ein Beispiel für viele jugendliche aus einer Zeit als Eltern den Priestern – egal welcher Konfession oder politischen Richtung – mehr vertrauten als Ihren Kindern. Was für eine Scheiße!!!!
Paul Schäfer der über all die Jahre auch beste Beziehungen in die deutsche Politik pflegte (sogar CSU Partei Leute waren hierzu Besuch!!!) machte zwei entscheidende Fehler. Erstens versäumte er es für Nachwuchs zu sorgen, da er ja keinerlei Hetero Beziehungen zuließ – die mit eingewanderten Eltern der jugendlichen waren irgendwann schlicht zu alt! Zweitens begann er in seiner unersättlichen Gier nach jungen Knaben, auch chilenische Kinder zu missbrauchen die hier zu Gast waren. Doch die zum Christentum konvertierten „Heiden“ sehen wohl Priester anders als die frommen Lämmer aus Deutschland und glaubten den Schilderungen ihrer Sprösslinge – nur durch Pinochets Schutz hielt sich die Sekte noch aufrecht!
Als der chilenische Diktator 1988 per Volksentscheid aus dem Amt gewählt wurde und dies den Übergang in die Demokratie bedeutete, war es gleichzeitig der Anfang vom Ende. Der staatliche Schutz zerbrach -1989 wurde die Colonia (auf dem Papier) aufgelöst und ging in 4 Nachfolgefirmen – u.a. die Villa Baviera über – Schäfer war verschwunden, zog aber im Hintergrund mit den Komplizen immer noch die Fäden. Urplötzlich hatte zwar die Pein und Gefangenschaft der Bewohner ein Ende, doch wo sollten Sie hin!? Ihre Juristische Person existierte nicht mehr – keine Pässe, keine Einzahlungen in Rentensysteme, keinerlei verdienter Lohn oder gar Liegenschaftseigentum – ihnen gehörte nichts!!! Dazu auf einem Kontinent dessen Sprache Sie nicht sprechen und ohne Schulabschlüsse in der Tasche. Zu allem Übel durften die alten Handswerkmeister über die ganze Zeit in der Colonia nicht ausbilden und Ihr Wissen weitergeben…..die Freiheit war nichts Wert!! Sie brachte sogar eine weitere grausame Wahrheit ans Licht > es gibt keine andere Perspektive, als diejenige hier zu bleiben und weiter zu machen an dem Ort wo Sie so viel Leid erfahren hatten. Unvorstellbar ist auch, dass weder der deutsche noch der chilenische Staat und insbesondere die nachfolge Firmen bis 2006 irgendeine Entschädigung an die Opfer zahlten – erst da erhielten Jürgen, Erika, Renate und die anderen ihre ersten Monatslöhne!!
Bis heute sind dutzende Klagen der Opfer in verschieden deutschen Gerichten anhängig, Chile hat mittlerweile die seinigen Opfer mit rund 100.000 Dollar pro Person entschädigt. Deshalb ist es absolut unverständlich wie Deutsche Staatsbürger, die Ihrer Würde und juristischen Person nachweislich beraubt wurden, die mit Wissen vorangegangener Regierungen (der BND war stets im Bilde, denn es gab Flüchtlinge die es bis nach D geschafft hatten) so im Stich gelassen werden, während unser Staat Milliarden ausgibt für Menschen denen wir rein Garnichts schulden!!!
Jürgen hat seit 2006 zwei Mal Deutschland besucht, seine Eltern sind dorthin zurück gekehrt. Viele der Alten konnten die Wahrheit nach dem Ende der Colonia nicht ertragen, einige haben sich Geld erstritten manche streiten noch heute. Doch für Erica, Renate, Jürgen und viele andere ist die Villa Baviera das zu Hause – das einzige was Sie als zu Hause kennen! Und so arbeiten Sie Tag für Tag auf dem Gelände oder im Restaurant Zippel welches ihnen über 30 Jahre eines freien Lebens beraubt hatte, wo Schauspiel und Bestrafung im Namen Gottes am selben Ort stattfanden! Auf die Frage wie er das ertragen kann antwortet Jürgen: „Er arbeite gern, er hat immer gern gearbeitet. Seit der „Alte Mann“ (P.S.) weg ist kann er nach christlichen Werten leben und sein Galgenhumor, seine Frau (die auch hier aufgewachsen ist) lassen ihn die Vergangenheit ertragen.“ Es bereitet ihm eher Sorge was wird, wenn einst die „deutschen Kinder“ nicht mehr hier sind und für Ordnung sorgen. Er fügt an „Dies ist der schönste Ort, den ich kenne weil wir ihn erschaffen haben.“ Etwas sprachlos können wir nicht so richtig verstehen wie das in seinem Kopf funktioniert – aber wir müssen Ihm zustimmen!!!
Wer mehr über den Wahnsinn der Colonia Dignidad wissen möchte sollte sich den gleichnamigen Kino Film mit Daniel Brühl und Emma Whatson von 2015 ansehen – Jürgen vergab hier eine glatte deutsche Eins.